Leonardo Lustig
Wer heute die Galerien und Ausstellungen zeitgenossischer Kunst unserer groβen und kleineren Städte besucht, kann sich beim Hinaustreten eines leicht unbehaglichen Gefühls nicht ganz erwehren. Woran liegt das? Er sieht ja immer wieder recht ansprechende Dinge. (Ich rede hier vorzüglich von Skulpturen). Keineswegs fehlt es den heutigen Bildhauern an Einfällen; auch bemerkt man häufig ein sehr sensibles Formgefühl, und die verwendeten Techniken, mit denen sich die Schwerkraft des Materials zu symbolischen Ausdrücken erhöht, sind oft erstaunlich. Dennoch stellt sich eine innere Bereicherung, wie man sie vor älteren Skulpturen – und nicht einmal immer vor den berühmtesten – erlebt, nur noch selten ein. Man bleibt mehr oder weniger in einer intellektuellen Sphäre befangen , sieht mehr mit einem theoretischen als mit dem sinnlichen Auge – kurz, der ganze Mensch wird nicht angesprochen. Auch tragen zu viele der von Galeristen und Künstlern ausgestellten Werke einen zu offensichtlichen Stempel des Gewollten. Wir sehen interessante, amüsante, und oft erstaunlich raffinierte Formen, aber den meisten fehlt die innere Notwendigkeit, die allein nur befriedigen kann. Ein Jahrhundert des Suchens nach neuen Ausdrucksformen hat die Kunst in eine Sackgasse geführt. Überall ein verzweifeltes Streben der Künstler nach Selbstverwirklichung, während das Naive, Kräftige, Unmittelbare immer mehr verloren geht. Die revolutionäre Darstellung des Innenraumes verliert sich in mathematisch-geometrischen Formen, ergibt sich nicht mehr aus der zwingenden Realität eines Durchbruchs.
Die ganze Richtung der zeitgenossischen Kunstformen wird konventionell, hat sich verselbstverständlicht, die ursprünglichen Impulse fehlen.
Sollte man da nicht stehenbleiben und sich umschauen?
Die Anlage zu solcher Gesinnung fand ich während einer Reise in Italien bei einem jungen Künstler. Er heisst Leonardo Lustig, ist in Italien geboren, doch deutschen Ursprungs. Zufällig bemerkte ich seine bescheidene Ausstellung in Portofino und trat ein. Die Sphäre, die seine Arbeiten ausstrahlten, hatte etwas Ungewohntes. Gleich fühlte man sich in einer abgeschlossenen Welt. Nichts wirkte aufreizend oder herausfordernd, doch jedes Stück lud zu inniger Betrachtung ein, denn es gab etwas zu sehen. Mir fiel die Vielseitigkeit der benutzten Materialien auf, (Stein, Bronze, gebrannter Ton, Schiefer und Marmor). An seinen Köpfen aus den verschiedensten Steinarten, an den nur im Stein leicht angedeuteten Frauengesichtern, den kleinen Bronzefiguren als traditionelle Studien der menschlichen Gestalt gedacht, den Hoch – und Tiefreliefs in Schiefer gehauen oder auch in Ton modelliert, lag der unverkennbare Abdruck des Handwerks, das als die unerschütterliche Basis seiner künstlerischen Bemühungen erscheint. Sofort begreift man, dass die Arbeit ihm wichtiger ist als ein unbedingtes Streben nach Originalität. Während ihm die Gestaltung seiner Einfälle einmal mehr und einmal weniger gelingt, so entsteht doch unter seiner Hand stets etwas Gültiges und dem Auge des Betrachters Erfreuliches. Da wir so Körper wie Geist sind, kann ein Erzeugnis, das dahin strebt, sich vom Materiellen immer weiter zu befreien und sich in einer rein psychologischen Dimension zu verwirklichen, uns nicht völlig genugtun. Leonardo versucht, zwischen den beiden Polen eine Synthese zu schaffen. Er übersieht nicht den Ausgangspunkt, wie es heute leider oft geschieht, er wirkt der Gefahr entgegen, dass sich die Kunst von ihrem Ursprung immer mehr entfernt und nur noch mit theoretischen Augen oder Ohren begriffen werden kann. Damit hat er in unserer Zeit mit gesundem Instinkt einen guten Weg eingeschlagen: Indem er den Bogen zum Handwerk zurückschlägt, erhält die Kunst wieder die ursprüngliche Spannung, mit der sie den Menschen aus der Zerstreuung des Alltags in eine intensive Wirklichkeit zu erheben vermag.
Berlin, Mai 2002.
Wolfgang Hirsch