Eine hellenistische Gegenwart in der zeitgenössischen Bildhauerkunst
Als vor einigen Jahren Antonio Paolucci über die italienische Bildhauerkunst des vorigen Jahrhunderts schrieb, erriet er die Präsenz einer „italienischen Linie“, „die ihre Wegbereiter in Adolfo Wildt und in Arturo Martini hatte und sich weiter entwickelte mit Marino Marini, mit Manzù, mit Messina, Minguzzi und Greco. Mit Giuliano Vangi ist sie erfolgreich ins neue Millenium eingetreten“.
In dieser „Linie“ kann man mindestens zwei mediteraneische Seelen erkennen: Die erste ist die von Martini, Marini, Greco und Vangi, an das etruskische Kunstuniversum und die primitiven Toskaner angrenzend; die andere ist die von Giacomo Manzù, aber vor allem von Francesco Messina, der in den ersten zwanziger Jahren noch zu stilisierten Übergängen neigte; zwischen einer der letzten Suggestionen eines Arkaischen erhellt durch die Tradition und der Entdeckung des Klassischen – demjenigen des Museums und des Naturalismus hellenistischer Stimmung die von Vincenzo Gemito.
Messina hat seine Wahlverwandtschaft mit Gemito nie verschwiegen, angefangen von den Seiten gerührter Bewunderung, die er dem napoletanischen Bildhauer widmet, zu der Gegenwart des Gemito im Hause des mailändischen Bildhauers. Dort wurde er, kaum hatte er die Schwelle übertreten, von wunderschönen Zeichnungen und der Statuette des Acquaiolo, datiert von 1880 empfangen; die perfekteste, die uns nach den griechischen, nach den von Donatello und einigen von Cellini lebhaft in die Erinnerung kommt.
Diese mediteraneische Seele hellenistischen Ursprungs ist auch in der Bildhauerkunst von Leonardo Lustig gegenwärtig; ein junger Künstler, geboren in Ligurien, in S. Margherita Ligure im Jahre 1969 von deutschen Eltern, die das Meer der Riviera und die Natur des Portofino Berges liebgewonnen haben.
Für Leonardo Lustig ist die Bildhauerkunst Studium, Überlegung, Meditation, aber auch Arbeit, Strenge in seiner Beziehung zu den Materialien; gründliche Kenntnisse der künstlerischen Techniken, die er in den Dienst seiner schöpferischen Gedanken stellt; schon gleich bei den ersten Ideen, die er mit überzeugender Sicherheit in der Zeichnung festhält, um nach einem rigerosen Arbeitsprozess zum Modell zu kommen und von diesem zur fertigen Figur in den gewollten Massen. Lustig übersieht willentlich die ästhetischen Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts, er übersieht auch das Arkaische des Martini, das in abstrakte Formen ausläuft und von dem der grösste Teil der italienischen Bildhauerkunst der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts herkommt.
Seine Ausgangspunkte sind Gemito und Messina, aber auch Aristide Maillol und Charles Despiau (besonders in ihrer Art die weibliche Figur zu empfinden) und Ernesto De Fiori, eine bemerkenswerte künstlerische Persönlichkeit, der man das Verdienst schuldet als erster die klassische menschliche Figur in einen modernen Geist interpretiert, wieder aufgenommen zu haben: Es sind die drei grossen Bildhauer, denen nicht zufällig Giacomo Manzù eine Ausstellung im Jahre 1947 widmete, in der offensichtlichen Absicht, eine Verbindungslinie zwischen der plastischen Kultur des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts zu ziehen.
Wenn es relativ leicht ist, den Verlauf und einige Namen der mediteraneischen Seele der italienischen Linie, in der sich Lustigs Arbeit plaziert, aufzuzeigen, ist es um so schwerer, ihr eine stilistische Definition zu geben. Was Lustig im Jahrhundert der Avanguardien der Verwirrung in den erkennbaren Formen des Götzendienst am Unförmigen, des Mythos des Experimentierens mit neuen Techniken und neuen Materialien, der Krise, des Endes oder der Tod der Kunst (Argan), was Lustig mit den erwähnten Künstlern gemein hat, ist die Verteidigung des Kunstverständnisses als Ausdruck des Willens nach dem Figürlichen, das trotz der Verschiedenheit der Zeit der Kultur und der Generationen das Festhalten an den Formen und die Fortdauer bildnishafter Modelle und Suggestionen unterstreicht.
Die erwähnten Meister haben die Bildhauerkunst der Figur nicht als Tradition verstanden, nicht als ein unfruchtbares Welken einer Kategorie der menschlichen Vorstellung, aber als etwas tiefsinnig Lebendiges und Modernes, stets mit der Zeitentwicklung verbunden durch eine andauernde Frische und schöpferische Originalität.
Wenn sich diese Linie auch auf internationaler Ebene entfaltet und durchgesetzt hat, ist es das Verdienst von Künstlern, die verstanden haben auf die Kunstgeschichte zu blicken, oder sagen wir es nur, auf die Vergangenheit, „nicht als Gebrauchsanweisung und Anhaltspunkt (hinweisende Regel), aber als Sprache“. (Das hier Zitierte ist wieder von Paolucci).
Lustig so wie seine idealen Meister hat sich den Stil der italienischen Linie assimiliert, so wie man sich in der Zeit des Lernens eine Sprache aneignet, um sie später nach den eigenen Neigungen zu gebrauchen; gemäss den Seelenzuständen, der persönlichen Begabung, der eigenen Ausdrucksmöglichkeit, mit auch sehr verschiedenen Absichten, aber mit der grössten Natürlichkeit, genauso wie man eine im zarten Alter gehörte und erlernte Sprache gebraucht.
Lustig gehört zu dieser italienischen Linie und stellt eine der hervorragendsten Episoden zwischen den Künstlern der neuen Generation dar. Das bezeugen die zwischen 1992 und 2005 realisierten Werke in einem kurzen, aber fundamental einheitlichen Arbeitsverlauf. Es gibt bei ihm keine zeitgebundene Arbeitsdauer, keine Momente der Erschlaffung oder des Pausierens. Wenn der junge Künstler sich eine vollständig gegliederte Ausdrucksweise, eine klare erkennbare und definierbare stilistische Ziffer angeeignt hat, bleibt er ihr treu, blickt sich nicht mehr um, sucht nichts mehr ausserhalb seines künstlerischen Gedankens und geht seinen Weg in der plastischen Kunst mit einem Atemzug – neue Techniken ausprobierend wie der patinierte Zement und wendet sich an die klassischen Modelle mit der Kultur von einem (Menschen), der vollständig und bewusst unserer Zeit angehört. Man sehe Innocente (Der Unschuldige) und Fanciulla in riposo (Ruhendes Mädchen), zwei Bildhauerwerke vom Jahr 1992 und 1993 gezeigt 1995 in S. Margherita Ligure in der Ausstellung Scultori liguri nella seconda metà del 900.
Es wäre jedoch falsch, diese Werke und die der späteren Jahre als ein einfaches Zurückgehen zum Klassischen zu deuten. In der Tat, wenn der auf Lustig ausgeübte Zauber der grossen Bildhauerkunst der Vergangenheit und der schon erwähnten modernen Meister unbestreitbar ist, so ist ebenso ein vollständig zeitgemässes Interesse gegenwärtig, ein Interesse für die emotionellen Verhältnisse und Darstellungen der Seelenzustände des Menschen unserer Zeit.
Der Künstler meisselt und modelliert vollkommene Akte bis zu dem Punkt schwindelnde klassische Tiefen hervorzurufen wie eine auf die Renaissance hindeutende Sensibilität. Aber mit dem heroischen und den olympischen Begriff des Körpers verbindet er die Erkundung der existenziellen Verhältnisse, die Untersuchung der Emotionen und die Beachtung der innerlichen Psychologie.
So entstehen Akte von höchster technischer Meisterschaft als Spiegelbild eines menschlichen Zustands im prekaren Gleichgewicht zwischen Handlung und Stockung, Gedanken und Abwesenheit, getroffen im Moment der „concentrazione“ (Konzentration) des „ascolto“ (im Hören) der „disperazione“ (Verzweiflung). Es sind Figuren festgehalten in der Materie, in den Momenten ihrer Einsamkeit, in der Absicht „realizzare“ (zu realisieren), „leggere“ – zu lesen , „giocare“ –spielen , „pensare“ – zu denken oder noch einfacher wie in „Sulla via“ von 1997, „camminare“ – zu gehen , dabei ebenso der Fatalität der Existenz entgegentretend wie dem Anspruch der Kunstgeschichte: – in diesem Fall „l’Homme qui marche“ (Rodins Andenken).
Forte pensiero (starker Gedanke) ist ein Bronze-Relief von 1996; die kraftvoll männliche Figur, perfekt ausgearbeitet und modelliert wie ein Relief im Neu-Renaissancestil würdig dem Pollaiolo, ruft mit ihren Gedanken die üppigen Formen einer Frau herbei. Der Mann der sich das Haupt festhält, indem er sich zur Erde beugt, verbirgt in seiner Verzweiflung ein Problema reale –(wirkliches Problem), gebrannter Ton vom Jahre 2000. Die Figur, die mit ihren Händen eine Materie knetet, die antike Gebärde eines Bäckers oder Töpfers wiederholend, wird zur Metapher von Realizzazione (Realisieren) 2000, der aufrechte Akt, den der Künstler absichtlich in ausweichender Weise Figura (Figur) betitelt, schreitet, indem er zwischen den Händen einen mysteriösen Gegenstand hält: ein verwickelter Blumenkranz, ein Stück Traube oder eine Konkretion von Molusken, die wir bereits in den Händen des Innocente gesehen haben. Eine Doppelsinnigkeit, die mit der anatomischen Perfektion der Körper so stark kontrastiert, dass man an eine gesuchte und gewollte ikonographische (bildnishafte) Lösung denkt, die in diesen panteistischen Rosenkränzen zurückfindet zu dem dionysischen Geist von Gestalten, die in den intimen Momenten des Dialogs und des Gebets zu einer ausserirdischen Dimension der Existenz gewendet festgehalten sind.
Pescatorello (kleiner Fischer)1999 ist eine der Skulpturen, die schon mit dem Titel Lustigs Tribut an seine Lehrer anzeigt. Wie die napolitanischen „Scugnizzi“ von Gemito im kleinen Hafen von Santa Lucia zusammengebracht worden und die von Francesco Messina am Strand von Sestri Levante begegneten Knaben überzeugt waren, Modell zu stehen mit der Komplizität des Dichters Giovanni Descalzo, so modelliert Lustig seinen Meerjüngling mit einer strengen Lebendigkeit, einer sonnenhaften mediteraneischen Festigkeit, wie es der Meeresgottheit zu eigen ist.
Lustig ist ein gründlich figurativer Künstler, kann aber Resultate von absoluter und aussergewöhnlicher Visionärität erreichen, wenn er aufgefordert ist, sich an Themen zu bewähren, die ihn zwingen, die Schwelle des Naturalismus und der Objektivität zu übertreten. In der grossen Skulptur des brennenden Dornbuschs (Roveto ardente) modelliert im Jahr 2000 für den Hauptaltar der Parocchialkirche S. Antonio von Sestri Levante erreicht der Künstler eine aussergewöhnliche Vorstellungskraft. Ein Künstler des Figurativen hätte beim interpretieren der heiligen Schrift nicht gezögert, ausser den Flammen, die den Dornbusch nicht verbrennen, auch den Engel des Herren, Moses und die Herde des Letro vorzustellen; Lustig stattdessen seine zeitgenössische Zugehörigkeit besiegelnd, als ein stets an der ausdrucksvollen Erkundung der Geistigkeit und des Heiligen interessierter Künstler unternimmt im neuen Presbiterium der Kirche von Sestri Levante ein plastisches Wirken, das den Atem einer visionären Kunst wieder aufnimmt, fähig, mit der ihr eigenen schöpferischen Kraft sich in die Kontinienz der dem Künstler angehörigen Zeit zu trasfigurieren.
Der überraschende Abstand zwischen dem Abstrakten des brennenden Dornbusch und dem Wirken der Gestalt, dem der Künstler am stärksten anhängt, füllt ein einige Jahre früheres Werk Il lavoro degli antichi (die Arbeit der Alten) eine monumentale Komposition ausgeführt im Jahre 1998, in der die Liebe zu Ligurien die Form einer lyrischen Darstellung der schweren Bauernarbeit beim Kultivieren der Oliven mit der rauhen, verwachsenen Rinde erreicht – modelliert mit einem erstaunlichen Realismus, wie auch der Terrassenbau „fasce“, die das Profil der Berge in altertümliche Pyramiden der alten Völker verändert haben.
Im mediteraneischen Klassizismus verbinden sich die Komponenten eines heidnischen Hedonismus, der aus den Gestalten hervortritt, in denen man den Ernst des klassischen Gedankens, die Leichtigkeit des Traumes, die Sehnsucht des Mytos wahrnimmt. Lustig erreicht auch ein völlig barockes Übermass und barocke Überschwenglichkeit wie in seinen letzten Skulpturen – Gestalten umgeben von im Winde wehenden Schleiern, gearbeitet im Stein von Lecce. Wenn man an diese Steinart denkt, so kommt einem sofort die barocke Kunst in den Sinn, die mit diesen Material befähigt war ein bewundernswürdiges Formenspiel auszudrücken: Architekturen, Volumen und Fassaden, Kirchen, Klöster und herrschaftliche Gebäude.
Der Tuffstein von Lecce hat die Farbe des Honigs, er ist weich geschmeidig und fest. Lustig wie die alten salentinischen Meister verwandelt ihn in bewegte von eigenartigen Winden aufgeschwellte Formen. Diese Skulpturen einmal der Luft ausgesetzt, werden hart und dauerhaft wie Marmor und vergolden sich in der warmen Sonnenluft. Es ist das Barockfest, strotzend und heiter, belebt Gestalten gesättigt von jenen abstrakten Formen, die Leo Fulla mit seinem Tanz erreichte, mit dem er die Modernen der Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts und die Futuristen verrückt machte: Figuren die in der Luft zwischen Oliven, Büschen und Blumen tanzen, in diesem ungewöhnlichen Ort, den Lustig für sein Studio gewählt hat.
Wenn es wahr ist, dass es eine Tipographie der Kunst gibt, dass die Umgebung, gleich wie die Meister und die sozialen Verhältnisse auf die schöpferische Kraft der Künstler wirken können, so ist das Studio, wo Lustig seit einigen Jahren arbeitet, eines der seltensten Künstlerorte, die fähig sind, einen ganz besonderen Reiz auszuüben, der verbunden ist mit dem Menschen, der hier gewohnt und gearbeitet hat.
Lustig hat gewählt in der Villa Bozano Gandolfi zu arbeiten, die sich oberhalb S. Margherita Ligure in S. Lorenzo della Costa befindet. Eine Gedenktafel an der Hauswand angebracht, erinnert dass hier der Maler Francesco Gandolfi, ein wichtiger Vertreter der grauen Schule gemalt und gelebt hat. Die Bezauberung dieses Künstlers bemerkt man noch an diesem Ort. Er ist gegenwärtig mit seinen Bildern in den Dekorationen der Portale, in dem netten Tabernakel aus Marmor, in der romantischen Architektur der Villa und dem ausserordentlich romantischen Garten, von dem man auf den Golf des Tigullio blickt und wo Lustig die andauernde Ausstellung seiner Figuren eingerichtet hat.
Es ist möglich, das der freie und bizarre Geist des Gandolfi Lustig dazu überredet hat, einige seiner Sculpturen zwischen die Büsche und Bäume zu stellen (ein Kopf, einen Torso, eine Statue, einige Stücke von Figuren in Marmor gemeisselt), um die Besucher des schönen Gartens, die sie für Reliquien einer vergangenen Zeit halten, damit irre zu führen.
Man kann darüber streiten, ob die Art wie er sich mit grösster Natürlichkeit mit solchen Werken in unserer Zeit zu bewegen weiss, eine neu entdeckte Zitierung von feinsinnigstem Begriff ist oder ein vorgetäuschter archäologischer Fund. Jedenfalls ist die Beziehung zur Kunst der Vergangenheit, verstanden als Erinnerung des Menschen, Gedanke, Zeichen eines Bedauerns oder einer persönlichen Vision der Kunstexistenz. Gleich den nackten Gestalten in natürlicher Grösse stellen auch die vorgetäuschten Funde, die zwischen den Blumen auftauchen, ein Stück Geschichte von erstaunlicher Annäherung dar. Die Skulpturen von Lustig schweben in einer unerkenntlichen Sphäre und sie erscheinen noch erregender durch die vom Künstler geschaffene Täuschung mittels eines weisen und bewussten Durchgangs des Kunstwerkes durch Zeit und Raum.
So überträgt er in erstaunlicher Weise die Zeichen und Formen der alten Bildhauerkunst in unsere Zeit, indem er uns darauf hinweist, dass dies nur ein Ausgangspunkt und Übergang ist, der neue künstlerische Ergebnisse nicht ausschliesst.
Genua, Januar 2006.
Franco Ragazzi