Leonardo Lustig die Bildhauerkunst innen
Die Zentralität der menschlichen Figur bestimmt in indirekter Weise das Wirken zeitgemässer Kunst. Schon immer verdichtet und verdeckt der Körper die andauernden und universellen Fragen des Menschen, er ruft Gefühlsabgründe hervor und lebt als seelische Landschaft durchdrungen von brennenden Erregungen, von schauervollen Spannungen und greifbaren Beängstigungen: ein „anderes“ Universum von den Künstlern als Gleichnis gelebt und gefühlt, als Erforschung, als Vorwand, Fetisch, Erzählung, Herausforderung, Paradox oder nur einfach als Materie, die zur Vollendung emporsteigt, – Entzauberung, Verlassenheit. In dieser dichten und abwechselnden dialektischen Folge von starkem Ausdruckswert der Form und des Inhalts „leben“ Geschöpfe und plastische Schöpfungen in unterschiedlichen zeit-räumlichen Dimensionen; beinah Kompensationsräume einer erregenden Körperlichkeit, verstanden als erzählerische Übertragung und Spiegelung der Umwelt. Man kann daher mit Recht behaupten, dass der Kunstkörper in unseren Tagen nach der zerstörenden doch nötigen Übertretung jeder Regel in der Plastik eine Wiedergeburt erlebt, die geschlossene Formen von kräftigen Volumen mit qualvoll unregelmäβigen Flächen abwechselt, ernüchtert und verdünnt bis zum Exzess in der vermaledeiten Wut eines Repräsentanten, der das Präsentierte auslöschen sollte. Jedenfalls in einem Bade neuer Klassizität, in einer reinigenden Waschung der Schlacken des Unterbewusstseins entwickelt sich im Heutigen nicht eine Rückehr zur Vergangenheit oder eine nostalgische Umkehr oder eine Aufwertung des Alten (schon das Ansehen und Präsentieren der griechischen Modelle bewertet sich von selbst); vollständiger aber als ästhetische Wahl für ein heutiges Publikum, nun bereits verwirrt, gedrängt, angegriffen, verloren in der Wirrnis der Ausdrucksweisen und der Moden des hervorragenden Gezeigten. Auβerhalb der neuen Kodexe der Abstraktion ist der Berggrat, der das „Machen von Skulpturen“ im neuen Millenium teilt, präzis und bestimmt. Auf der einen Seite Künstler, die das Klassische und den Reiz der groβen Kulturen gebrauchen in originellen, individuellen Wiederholungen an der Grenze eines Schöpferischen, das ein stilistisches Muster unmittelbarem Wiedererkennen wird. Man denke nur an die Zerstückelungen, Abtrennungen und Eingriffe an den griechischen Statuen des Igor Mitoraij, an die entstellten zweideutigen Figuren, überzogen mit einer Haut, auf der auf einander abgestimmte Kästchen und geometrische Gitter zwischen Symbolhaftigkeit und esoterische Polarität gezeichnet sind, von Rabarama, an die fast hypnotischen, erstarrten, schwebenden aber alltäglichen Zustände, festgehalten in dem standby einer unwahrscheinlichen Realität von Giuseppe Bergomi.Auf der anderen Seite als Gegensatz verwurzelt sich eine umfassendere und gemischtere Gruppe von Künstlern, die eine andersartige Liebe für die Kultur und die Schönheit leben, eine Liebe, die keine momentane Schwärmerei ist, sondern eine andauernde Berufung und Erhebung hin zum Festhalten des Bildnisses. Es sind Bildhauer noch verzaubert von der Magie des „unveränderlichen Prinzips“ wie Winckelmann die klassische Schönheit beschreibt, – Bildhauer, die eine emotionelle Verlassenheit des Körpers ausdrücken als Beschwörung der Materie, als Erhebung bis zur Extase und Vollkommenheit. Cantores einer nunmehr entschwundenen Welt. Diese Künstler bleiben glückliche Gefangene in den Fallen eines kalten und entfernten Kunstwirkens, einer gewollten Entfremdung, der die Energien nicht befreit und keine Gefühlsbeteiligung einsetzt.
Leonardo Lustig hat sich entschlossen, diese beiden ästhetischen Modelle in den wärmsten Graden zu vollziehen, ohne jedoch zu vernachlässigen einige Werke ( wenige, aber bedeutende) einer neuen informalen Intensität in einer Serie von Figuren anzugreifen, die in eine würdige und ikonische Metaphysik des Alltäglichen hineingestellt sind. Lustigs moderne Klassizität ist das Verbindungsglied zwischen einem Drängen zur Schönheit und dem Konflikt mit der Wirklichkeit, wenn auch in einer häuslichen und volkstümlichen Weise. So abwechselt der Künstler rauhe und körnige Zonen und arbeitet mit leuchtenden Flächen, die mit Licht und Schatten spielen in einer Poesie der flachen und in der Reinheit der Volumen vereinigten Materie. Ein talentvoller Künstler, der verschiedene Einflüsse und kulturelle Richtungen durchläuft, sich in seinem Weg bestätigt durch ein leichtes, vollständiges Herausarbeiten der Form. Der ligurische Bildhauer verschmäht nicht ein unmodelliertes Ganzes, in dem oft die Volumen von den Bruchstellen der Materie und den Unterbrechungen der plastischen Flächen unabhängig sind. Dem aufmerksamen Kritiker wird die Schönheit und die formale Eleganz des Innocente (Der Unschuldige) nicht entgehen, bei dem das Fallen der Weintraube sich in derselben Kompositionsfrequenz verhält wie beim Bacchus von Michelangelo, und die Musikalität der Stellung sich von der Ferne her mit dem Dornknaben der Vatikanischen Museen und dem „Il Tobiolo“ von Arturo Martini vergleicht , (das trifft auch auf den Lettore – Leser von 1996 zu). Und wie kann man nicht den durchdachten, rätselhaften, zusammengefassten und verdichteten Ausdruck und die Gestaltung von Concentrazione (Konzentration) im Hinblick auf den Denker von Rodin wahrnehmen, und noch, den in der Ferne verlorenen Blick von In ascolto (Im Hören) mit der gegenwärtigen Abwesenheit des stehenden Mannes von Troubetzkoy. Tatsächlich, es scheint, Lustig will den vitalen ursprünglichen Fluss seiner Figuren aufhalten und durchbrechen, um ihn in eine allgemeine Zwischenstufe einer unabänderlichen und zugleich unwahrscheinlichen Zeit zu setzen. Daher die Chemie des Verhältnisses zwischen Realität und Fiktion, die jede Figur zum Helden der unendlichen Geschichte des Lebens und der Erinnerung macht. Ich habe oft über die falsche Abwesenheit geschrieben, die die Bildnisse der Bildhauerkunst von den Schauern, die sie durchlaufen, trennt; Bildnisse also in ihrer Abgeschiedenheit unabänderlich real wie diese von Lustig. In Schwebe auf dem Faden der Widersinnigkeit scheint es, sie wollen ihrem Körpersein entgehen und sich zugleich mit ihm identifizieren, um gleichsam zum Lackmuspapier zu werden, welches erlaubt, einzutreten in ein seltsames Hiersein in der Abwesenheit, fast eine metaphysische Erhebung, die auβerhalb der sich abwickelnden Gefühle Wärme und Entfremdung hervorruft. Im Inneren seiner Bildhauerkunst und mit der Bildhauerkunst in seinem Innern „sieht“ Lustig – wie für Diderot und sein Paradox – jede seiner Schöpfungen leben, er gibt sich hinein in die Menge seiner Figuren mit dem Universalschlüssel der Vernunft. Bei diesem Künstler gibt es keine Idealisierung wie in der griechischen Bronze, aber eine imaginierte wie konkrete Lesbarkeit, die aus Lustig einen Dichter der Materie macht und zugleich den Erzähler eines menschlichen Zustandes in seiner gemischten Identität und Einzigkeit. Es sind nicht zufällige Gelegenheiten, in welchen der Künstler das Anomale lebt, in gewollter Spannung eine Entfremdung vom Objekt und der Auslöschung der emotionellen Wahrnehmung, indem er ein Ausleger der Realität wird sic et simpliciter, d.h. einer von jeder Art subjektiven Einschlag gereinigten Wirklichkeit und frei von aufgefassten und auslegenden Einfügungen. Il lavoro degli antichi (Die Arbeit der Alten) ist davon ein passendes Zeugnis. In diesem Werk verwandelt sich der Bildhauer in einen kalten Reporter der Anstrengung als täglichen Ritus, als menschlichen Zustand, als Gewohnheit des Sich-Abquälens, als Salz und Brot des Leidens, aber auch als Adel des Seins.
Es bleibt jedenfalls eine nochmalige Hinwendung zum Prisma der Klassizität, eine der dauernden Aufforderungen verwirklicht von Lustig; auch wenn es sich nicht um ein remake handelt, sondern eher noch um ein Wiedermodellieren – vielleicht richtiger, ein Nachempfinden mit den Augen unserer Zeit – des groβen Geheimnis, das in den wunderbaren Werken der Meister liegt, in einem „Alten“ geschichtlich gemacht, metabolisiert und verbraucht, das uns wieder wachgerufen erreicht, Fundstück oder Ikone einer in der Geschichte der einfachen Materie und einfachen Materialien stehengebliebene Vergangenheit. Ein bedeutendes Beispiel dafür ist die Technik des patinierten Zements, mit welcher er die Werke von groβen Dimensionen schafft. Es ist ein Prozess, der von der Notwendigkeit eine Tugend macht, der der Bronze ausweicht und den hohen Kosten des Giessens mittels des Wachsausschmelzverfahrens, wobei er dennoch einen perfekten Konservierungszustand der der Witterung ausgesetzten Figur erhält. In aufeinander folgenden Phasen: Vom Modell in Ton realisiert zum Negativ in Gips, gefüllt mit Zement – gebührend gestützt – und weiter bis zum Abmeisseln des Negativs, um eine positive Form zu erhalten, die dann mit speziellen Produkten patiniert wird. So werden Effekte einer hervorragenden stofflichen Plastizität und einer groβartigen anschaulichen Monumentalität erreicht.
Leonardo Lustig ist ein in sich gefestigter Bildhauer, der kulturelle Einflüsse verarbeitet, aber ihnen nicht erliegt. Geboren in einer Künstlerfamilie, in der er auch gelebt hat (Vater Schriftsteller, Groβvater Maler) neigt sich sein Stil einer ausgeglichenen formalen Synthese zu, die die Unruhen der modernen Welt aufnimmt und intensiv lebt, sie in einen Mikrokosmos von Figuren hineinzielt, die sie identifizieren und sich identifizieren als Allegorische eines Geistes ohne Pathos, durchdrungen von Akzenten eines delikaten Naturalismus. Eine Synthese, die auch lebt von abgewogenen Spannungen der Bewegung, von einer festen und durchdachten Gesetztheit der Anordnung und von einer Vitalität festgehalten im Gleichgewicht einer harmonischen dynamischen Modellierung. Die Ballerina (Tänzerin) von 1998 deutet daraufhin und ist ein offensichtliches Beispiel der Strenge, der Reinheit der Volumen und von einer Eleganz der Geste: Der Künstler stellt sie in einen Kreis, quasi als ob sie sich in der Absicht zu fliegen von ihm loslöse
Das Streben nach einer neuen Geistigkeit, nach dem Übernatürlichen, die physische Dimension des Menschen und seines Körpers als „Materie“ zurücklassend – also seine bewusste Identität befreiend, ist der Funke, der eine andere wichtige Realisierung von Lustig ausgelöst hat: Dieser Roveto ardente(brennende Dornenbusch) der sich mächtig abhebt in seiner aufstrebenden Verflechtung und seinen züngelnden, verwickelten Pulsionen auf dem Presbiterium der Kirche S. Antonio in Sestri Levante; vergleichbar mit der „Resurrezione“ von Pericle Fazzini im Nervisaal im Vattikan, wo das dicht verwickelte Gewirr halb abstrakter, rauher, eingeschrumpfter Formen, die dem verwachsenen Gestüpp folgen, eine emporsteigende Bewegung begleiten; gemacht aus blitzenden Formen im Raum und das Transzendente des Bildnis den beschwörenden Reiz der Materie befreit. Dieses Werk – wie übrigens einige der letzten Zeichnungen, zeigt auch einen gebildeten Bildhauer, befähigt formale Einflüsse, die an den Grenzen jener Erhebung zur klassischen Welt gesehen und gelebt worden sind, für sich zu nützen, Einflüsse, die der Künstler gewohnheitsmäβig aufnimmt und unterschreibt; folglich sind für ihn neue potenzielle Einblicke in viele Kulturrichtungen möglich. Abschlieβend sei angezeigt, dass der ligurische Bildhauer in unmittelbarer Zukunft fertig und reif sei für noch viel gewichtigere öffentliche und private Aufträge groβer Werke als Besiegelung und logischer Vollzug seines Kunstwirkens.
Bologna, Dezember 2005.
Valerio Grimaldi