Eine Bildhauerkunst vom Alten zur Gegenwart
Wie dem auch sei, im Schaffen Leonardo Lustig lässt die Identität der Bildhauerkunst, als eine subjektive, gefühlsmässige Erforschung der Formideen – abhängig von Michelangelos Kodex des „Wegnehmens“ – doch die unumgänglichen Abweichungen bemerken, die aus dem Geschichtlichwerden des Ausdrucks der Plastik hervorgehen.
Jedenfalls – wahrscheinlich, um besser zu erkennen und sich gründlicher in dem Komplex der Verhältnisse zwischen Antik, Modern und Neuzeitlich hineinzufühlen – hat er mit Entschlossenheit und formaler Strenge die verschiedenen Kompositionssysteme verfolgt, die sich während der Arbeit ihm vorangegangener Künstler gefestigt haben.
Tatsächlich, indem Lustig sich die verschiedenen konstruktiven Strömungen der plastischen Gestaltung in durchquerender und nicht progressiver Art und die konsequente Vermischung der semiotischen Ausdrucksweisen angeeignet hat, ist er der eigenenNotwendigkeit nachgekommen, der expressiven Spannung einer Kunst Form zu geben, die der Figur die kostbaren Inhalte und Masse des Geistes anvertraut.
Doch, um an seine Art zu denken und die Bildhauerkunst zu vollziehen näher heranzukommen, halte ich es für angebracht festzustellen, mit welchen formalen und individuellen Prozessen er sich in zeitlicher Folge den klassischen Erzeugnissen der allgemeinen plastischen Erfahrung genähert hat.
Ich bin mir bewusst, dass die geschichtliche Bedeutung des Ausdrucks klassisch, wie es eine alte Tradition erklärt, verbunden ist mit Normen, Regeln und Prinzipien einer realen Schönheit hingerichtet auf Modelle und Regeln der klassischen Periode griechischer und römischer Kunst; aber auch verbunden mit nachfolgenden Hinführungen der expressiven Praxis bis zu den Massstäben jenes Romantizismus, der dagegen von den meisten als antithetisch zu den gefestigten Werken des alten Stils gehalten wird; dessen Eigenarten und Varianten gerade Lustig fast gleich, nach dem er die Ursachen begriffen hatte, bemerkte, und die bereits im 14. und 15. Jahrhundert, mittels der verschiedenartigen gewählten Materialien, Formen und Figuren im allseitigen Relief erscheinen liessen; um sie in den Raum zu stellen, damit dessen Bedeutung – verstanden als Unterbrechung, Rhythmus, Verhältnis, Symetrie, struktureller Zusammenhang – ein symbolisches Empfinden erzeuge oder wie es 1897 Theodor Lipps theoretisch ausdrückte eine qualifizierende Ästhetik verwirkliche.
Folglich sollte der heutige Bildhauer, der die Realität begreifen will, um in seinem Werk ihre Sinnhaftigkeit aufzuzeigen, die Darstellung seiner Figuren in einer ausdrucksvollen und überzeugenden Weise vornehmen, das heisst, Neues dem Gewussten hinzufügen, ohne jedoch auf eine direkte Verbindung zur erscheinenden Wirklichkeit und den Veränderungen des Ausdrucks, durch welche sich die Idee in Form umwandelt, zu verzichten.
In Lustigs Bildhauerkunst ist die objektive und originelle Art seines Wirkens tatsächlich evident. Der Künstler hat vorzugsweise ihre figurative Seite in der Richtung zu jenem Realismus und jenem beschwörenden und archaisierenden Expressionismus gewählt, die ihre Begründung in dem effektiven und organisierten Verhältnis zu den gewählten Materialien fanden (von Gips zu Zement; vom gebrannten Ton zum Stein und Marmor ) in der Modellation der Formen im Raum und in der symbolichen Bedeutung der von ihnen ausgedrückten Idee.
Nach den grossen Renaissance Klassikern und Manieristen (von Donatello und Michelangelo zu Ammannati und Giambologna ) kennt er die Nostalgie und Verzweiflung recht gut – auch wenn er sie nicht in den eigenen Adern spürt, den climax ( Auffassung ) wie Flavio Caroli schreibt, des Bernini, aber mit glücklicher Intuition geht er gleich weiter und richtet sich nach den von Winckelmann aufgestellten Ideal der Grazie und Schönheit und erreicht folglich die „abstrakte“ Feinheit des Canova .
Von dieser nimmt er wieder auf – anschauend und auf der Suche des Wahren – das Weglassen der Umrisse und die mehr vorgestellten als ausgesprochenen hellen Auflösungen, bis zur emotionellen und empfindsamen Verdünnung, die dann die Eigenheit des Medardo Rosso werden sollte.
Bourdelle und Maillol hatten ihn schon angezogen und noch mehr als Martini sicherlich das neunzehnte Jahrhundert des letzten Messina oder die plastische Synthese des Libero Andreotti, die beeinflusst ist – im Zeichen der Rückkehr zur Ordnung – vom Wiederaufnehmen der Toscanischen Tradition des 14. Jahrhundert.
Lustig ist also ein Bildhauer vieler unterschiedlicher querlaufender Akzente. In seinem Werk Il lavoro degli antichi (Die Arbeit der Alten), wie auch La corritrice (Rennerin) und Fanciulla (Mädchen) erinnert er sogar an den modernen Galletti des „L’albero secco“ oder dem des „La fuga nel vento“.
Es gibt in seiner Arbeit Anregungen von hohem und anderem Stil und vieles, das ihm erlaubt, eine ausserordentliche Handwerklichkeit zusammen mit einer höchst persönlichen schöpferischen Ästhetik auszudrücken. Sicherlich sind die metaphysischen Weglassungen des Volto (Gesicht) in Marmor von Carrara gemeisselt nicht zufällig, ebenso nicht die des Autoritratto (Selbstbildnis) in gebrannten Ton hergestellt, so wenig wie es gewiss der Il giocatore (Der Spieler) nicht ist, der an Martini erinnert und an den neuzeitlichsten zwischen den figurativen Bildhauern – dieser George Segal der Pop-Künstler der täglichen und banalen Handlungen.
In einem unaufhaltsamen Fluss zwischen Klassisch und Neuzeitlich gibt Lustig ein natürliches Verständnis, die Bildhauerkunst nimmt in der Tat, ohne Unterschiede der Epochen und Stile die ihr eigene Schilderungskraft wieder auf.
Und in der heutigen Unruhe hinsichtlich des plastschen Ausdrucks, durchquert von einer heterogenen organisch-biomorphischen Übersteigung, belebt sie wieder eine grosse Versammlung von Figuren in einer stark hervorgehobenen Sprache. Indem Lustig nun seiner Bestimmung als sicherer Handhaber der unterschiedlichsten Materialien folgt, seine technische Fähigkeit in ein expressives poetisches Vorgestelltes erhöht, spricht er aus in jedem seiner Werke – von den Köpfen zu den metaphorischen „Stellungen“ – Gegenwärtigkeit, Erforschung der Wahrheit des Seins.
Genua, Dezember 2005
Germano Beringheli